ADHS: nicht einfach "Aufmerksamkeitsprobleme"

Warum ADHS nicht einfach “Aufmerksamkeitsprobleme” bedeutet

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Wie ein Missverständnis die Sicht auf eine komplexe Störung verstellt

“Du kannst dich doch stundenlang auf dein Lieblingsthema konzentrieren – wie soll das ADHS sein?” Diese Frage bekommen viele Betroffene immer wieder gestellt. Und sie ist typisch für das verbreitete Missverständnis, ADHS sei schlicht eine Form von
Unaufmerksamkeit. Doch das stimmt nicht. Tatsächlich geht es bei ADHS nicht um zu wenig Aufmerksamkeit – sondern um eine Schwäche in der Steuerung von Aufmerksamkeit. Und das macht einen großen Unterschied.

Menschen mit ADHS haben keine grundsätzlich schlechtere Konzentrationsfähigkeit. Sie haben jedoch Schwierigkeiten, ihre Aufmerksamkeit gezielt und dauerhaft auf das zu lenken, was gerade wichtig ist – insbesondere, wenn die Aufgabe wenig emotional oder inhaltlich reizvoll ist. Die Folge: Sie schweifen ab, vergessen Dinge, verlieren sich in Gedanken. Gleichzeitig erleben viele aber Phasen intensiver Konzentration, in denen sie tief in ein Thema eintauchen und alles um sich herum vergessen. Das nennt sich Hyperfokus – ein paradoxes, aber typisches ADHS-Phänomen.

Im Hintergrund steht eine neurobiologische Besonderheit: Das Frontalhirn, das bei der Steuerung von Handlungen und Aufmerksamkeit eine zentrale Rolle spielt, arbeitet bei ADHS anders. Das betrifft vor allem die sogenannten Exekutivfunktionen: also die Fähigkeit, Informationen zu sortieren, Prioritäten zu setzen, Ziele im Blick zu behalten und sich selbst zu regulieren. Auch das Dopamin-System, das für Motivation und Belohnungsverarbeitung zuständig ist, ist bei ADHS beeinträchtigt.

Die Folgen zeigen sich im Alltag: Menschen mit ADHS haben oft Mühe, bei langweiliger oder wenig strukturierter Arbeit am Ball zu bleiben. Sie sind schneller abgelenkt, vergessen Termine, haben Schwierigkeiten, komplexe Aufgaben in sinnvolle Teilschritte zu gliedern. Sie erleben häufig innere Unruhe und Reizoffenheit, können schlecht filtern, was wichtig ist und was nicht.

Dabei ist ADHS kein Mangel an Intelligenz oder Interesse. Viele Betroffene sind überdurchschnittlich kreativ, empathisch, wissbegierig – aber ihr Denken und Fühlen ist so intensiv, dass es sie mitunter überfordert. Die Welt “kommt ungefiltert rein” – und das macht die innere Ordnung schwierig.

Diese besondere Art der Aufmerksamkeitsverarbeitung bringt auch wertvolle Stärken mit sich: blitzschnelle Assoziationen, originelle Ideen, ein hohes Gespür für Stimmungen. Aber sie verlangt auch nach individuellen Strategien: Strukturhilfen, Pausen, Bewegungsphasen, visuelle Unterstützung. Was für andere “selbstverständlich” ist, braucht für Menschen mit ADHS oft bewusste Planung und Übung.

Deshalb ist es so wichtig, ADHS nicht auf eine vermeintliche “Konzentrationsstörung” zu reduzieren. Es geht um viel mehr: um Reizsteuerung, Impulskontrolle, Emotionsregulation – und um ein tiefes Verständnis dafür, wie das eigene Gehirn funktioniert.

Wer ADHS hat, ist nicht weniger leistungsfähig. Aber er oder sie braucht oft andere Wege, um diese Leistungsfähigkeit zu entfalten. Wege, die zur eigenen Wahrnehmung passen. Und Menschen, die verstehen, dass Aufmerksamkeitsprobleme eben nicht gleich Aufmerksamkeitsdefizit sind – sondern Ausdruck einer besonderen inneren Dynamik.