Der innere Wirbelsturm – Wie sich ADHS anfühlt
Ein Einblick in das Erleben hinter den Symptomen
“Ich bin nicht faul. Ich bin nicht unmotiviert. Ich bin erschöpft vom inneren Chaos.”
So oder ähnlich beschreiben viele Erwachsene mit ADHS ihr Erleben. ADHS ist kein sichtbares Chaos, sondern oft ein unsichtbares Ringen – mit Gedanken, Gefühlen und einem Nervensystem, das pausenlos unter Strom steht. In diesem Artikel geht es nicht um Definitionen oder Diagnosen, sondern um das Innenleben. Um das, was sich oft schwer beschreiben lässt – aber so tiefgreifend den Alltag und das Selbstbild prägt.
Gedanken, die springen – und nicht landen
Stell dir vor, du versuchst, einem Gespräch zu folgen, aber dein Gehirn verfolgt gleichzeitig fünf andere. Du willst eine E-Mail schreiben, aber noch bevor du den ersten Satz tippst, erinnerst du dich an die unbezahlte Rechnung, den unbeantworteten Anruf, das interessante Video, das du gestern gesehen hast. Gedanken sind da – viele, schnelle, kreative – aber sie lassen sich kaum bündeln oder halten.
Menschen mit ADHS erleben ihre Aufmerksamkeit wie einen Schmetterling im Sturm: flatterhaft, sprunghaft, oft schwer steuerbar. Diese Sprunghaftigkeit ist keine Frage der Disziplin, sondern eine neurologische Besonderheit. Das Gehirn ist reizoffener – und das bedeutet: alles wird gleichzeitig wahrgenommen. Die Hintergrundmusik. Der Gesichtsausdruck des Gegenübers. Das eigene Gedankenrauschen. Und mittendrin: der Versuch, bei einer Aufgabe zu bleiben.
Emotionen ohne Regler
Doch nicht nur Gedanken springen. Auch Gefühle sind bei ADHS oft intensiv, plötzlicher und schwerer zu regulieren. Eine kleine Kränkung kann wie ein Schlag wirken. Ein stressiger Moment reicht, um in Tränen auszubrechen oder wütend zu werden. Emotionen kommen schnell – und gehen nicht so schnell wieder.
Diese emotionale Reaktivität ist für viele schwer auszuhalten. Vor allem, weil sie oft missverstanden wird. Nach außen wirkt es wie Überempfindlichkeit – innerlich fühlt es sich an wie ein unkontrollierbarer Tsunami. Was bleibt, ist nicht selten: Scham. Und Rückzug. Viele lernen, ihre Gefühle zu unterdrücken – oder trauen ihnen nicht mehr.
Der Körper macht mit – oder nicht mehr mit
ADHS ist nicht nur Kopfsache. Es ist eine ganzkörperliche Erfahrung. Viele berichten von innerer Unruhe, Muskelanspannung, Schlafproblemen, ständiger Gereiztheit. Der Körper ist in Alarmbereitschaft – auch, wenn gerade nichts Bedrohliches passiert. Das Nervensystem fährt nicht runter.
Konzentration wird zum Kraftakt. Pausen fühlen sich sinnlos an, weil der Kopf weiterarbeitet. Das Einschlafen wird zur Geduldsprobe, weil Gedanken sich überlagern. Und irgendwann streikt der Körper: mit Erschöpfung, Verspannungen, Migräne, Reizdarm. Das System ist überladen.
Der Hyperfokus – Segen und Stolperfalle
Doch es gibt auch das Gegenteil: Momente absoluter Konzentration. Wenn ein Thema fasziniert, kann es passieren, dass Betroffene stundenlang daran arbeiten, völlig versunken. Kein Hunger. Kein Zeitgefühl. Nur noch der eine Fokus. Das nennt sich Hyperfokus – ein paradoxes, aber typisches Phänomen bei ADHS.
Einerseits kann der Hyperfokus zu kreativen Durchbrüchen, intensiven Lernerlebnissen oder großem Output führen. Andererseits bringt er Risiken mit sich: Pflichten geraten in Vergessenheit, soziale Kontakte werden vernachlässigt, der Körper ignoriert. Der Hyperfokus kann produktiv sein – aber auch isolieren.
Was das mit dem Selbstbild macht
Wer so lebt, gerät oft in einen inneren Konflikt: “Ich weiß, was ich tun sollte – aber ich tue es nicht.” Das erzeugt Schuldgefühle. Scham. Und irgendwann: Resignation. Viele Menschen mit ADHS glauben irgendwann, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Dass sie faul seien. Undiszipliniert. Oder “zu viel”.
Dieses verzerrte Selbstbild entsteht nicht im luftleeren Raum. Es wird genährt durch Schulnoten, Jobkritik, Beziehungskonflikte – und durch eine Gesellschaft, die Effizienz, Ordnung und Anpassung belohnt. Die innere Stimme wird zum Kritiker. Und die eigentlichen Fähigkeiten treten in den Hintergrund.
Mehr als eine Störung
ADHS ist keine Schwäche, kein Makel, kein Defizit an Wert. Es ist eine andere Art, die Welt zu erleben – intensiver, chaotischer, aber auch farbiger und tiefer. Wer ADHS hat, braucht nicht nur Struktur und Tools. Sondern auch Verständnis. Und vor allem: einen liebevollen Blick auf sich selbst.
Denn das eigentliche Problem ist nicht das innere Chaos – sondern, wenn man glaubt, man müsse sich dafür schämen. Wenn Menschen mit ADHS sich selbst verstehen lernen, können sie beginnen, sich so zu organisieren, wie es zu ihrem Gehirn passt. Und dabei entdecken: Das, was so lange als Schwäche galt, ist oft auch eine besondere Gabe.