Der innere Kritiker bei ADHS

Der innere Kritiker bei ADHS – und wie man ihn entmachtet

Posted on

Von der Selbstverurteilung zur Selbstverbindung

Wer mit ADHS lebt, kennt ihn gut: diesen harten, fordernden, oft gnadenlosen inneren Kritiker. Er meldet sich nach jedem vergessenen Termin, bei jeder chaotischen Woche, nach jedem emotionalen Ausbruch. “Du bist zu unzuverlässig.” “Du musst dich einfach mehr zusammenreißen.” “Andere kriegen das doch auch hin.”

Diese Stimme ist nicht angeboren. Sie ist gelernt. Sie ist das Echo von Kommentaren aus Kindheit, Schule, Ausbildung, Partnerschaft. Und sie ist tief verankert. Gerade weil ADHS mit Unregelmäßigkeit, Impulsivität und Reizoffenheit einhergeht, entstehen früh Erfahrungen von Kritik, Beschämung und Unverständnis. Die Folge: ein Selbstbild, das nicht von Mitgefühl, sondern von Mangel geprägt ist.

Viele Menschen mit ADHS leben deshalb in einem dauerhaften inneren Spagat: Einerseits wissen sie um ihre Mühe, ihre Bemühungen, ihr gutes Herz. Andererseits scheinen sie den Erwartungen nie ganz zu genügen. Und der Kritiker ist schnell zur Stelle: nicht als korrigierende Instanz, sondern als entmutigende Stimme.

Die gute Nachricht: Diese Stimme ist nicht die Wahrheit. Und sie lässt sich beeinflussen.

Der erste Schritt ist das Erkennen. Wann meldet sich der innere Kritiker? Wie spricht er? In welchem Ton? Welche Bilder ruft er hervor? Allein dieses Beobachten verändert schon etwas. Denn es trennt die Stimme von der Person. Sie ist eineStimme im Inneren – nicht die eigene Wahrheit.

Der zweite Schritt ist das Gegengewicht: eine neue Stimme, die nicht verurteilt, sondern versteht. Eine Stimme, die sagen darf: “Ja, das war schwer.” Oder: “Du hast vergessen, weil du überfordert warst – nicht weil du faul bist.” Diese neue Stimme muss nicht laut sein. Aber sie darf da sein. Und sie braucht Wiederholung. Immer wieder. Wie ein Muskel, den man trainiert.

In der therapeutischen Arbeit kann das z. B. mit Stuhldialogen geschehen: Der Kritiker bekommt einen eigenen Stuhl. Und ihm gegenüber sitzt eine wohlwollende Figur. Man führt ein Gespräch. Und langsam verschieben sich die inneren Verhältnisse. Es entsteht Raum für neue Selbstbilder: Ich bin nicht mein Fehler. Ich bin nicht meine Unordnung. Ich bin ein Mensch mit einem nervensystembedingten anderen Alltag. Und ich verdiene Verständnis.

Auch Schreiben kann helfen: einen Brief an sich selbst verfassen. Oder an das eigene innere Kind, das sich so oft abgelehnt fühlte. Oder einfach einen Satz wie: “Ich bin genug, auch wenn ich es gerade nicht schaffe.”

Langfristig braucht es aber nicht nur Methoden, sondern eine Haltung: dass wir uns selbst als Wesen mit Bedürfnissen, Grenzen und einem eigenen Rhythmus verstehen. ADHS ist kein moralisches Versagen. Es ist eine andere Art, das Leben zu verarbeiten. Und wer das versteht, kann beginnen, innerlich freundlicher zu werden.

Der Kritiker mag nie ganz verschwinden. Aber er muss nicht mehr das letzte Wort haben. Denn da gibt es auch eine andere Stimme: deine. Die, die dich kennt, die dich hält, die dich erinnert: Du bist mehr als dein Chaos. Du bist nicht falsch. Du bist da. Und das zählt.