Fehldiagnosen bei ADHS – und wie man sie vermeidet
Warum ADHS oft verkannt wird – und worauf es in der Diagnostik ankommt
“Ich dachte, ich bin depressiv. Dann hieß es: Erschöpfung. Später war die Rede von Hochsensibilität – bis ich mit Mitte 30 die ADHS-Diagnose bekam.” Solche Geschichten sind nicht selten. ADHS wird oft übersehen, verwechselt oder missverstanden. Und das liegt nicht nur an mangelndem Wissen, sondern auch an der Komplexität der Störung selbst. Sie zeigt sich anders, als viele erwarten. Und sie tarnt sich oft hinter anderen Symptomen.
Warum wird ADHS so häufig falsch eingeschätzt?
ADHS hat viele Gesichter. Während es im Kindesalter oft mit motorischer Unruhe oder Schulproblemen assoziiert wird, sieht es bei Erwachsenen anders aus: Reizoffenheit, emotionale Überwältigung, chronische Erschöpfung, Prokrastination, diffuse Ängste oder ein Gefühl permanenter Überforderung prägen das Bild. Viele dieser Symptome können auch bei anderen psychischen Erkrankungen auftreten – was die Diagnostik erschwert.
Hinzu kommt: Viele Betroffene haben gelernt, sich anzupassen. Sie maskieren ihre Symptome durch Struktur, Kontrolle, Perfektionismus oder Rückzug. Was bleibt, ist häufig nur das Gefühl: „Irgendetwas stimmt nicht mit mir.“
Häufige Fehldiagnosen bei ADHS
- Depression: Die emotionale Erschöpfung, der Rückzug, das Gefühl von Sinnlosigkeit – all das kann auch bei ADHS vorkommen. Aber während eine Depression oft durch anhaltende Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit geprägt ist, sind die Tiefs bei ADHS oft tagesformabhängig und mit Reizüberflutung oder Frust verknüpft.
- Burnout / Erschöpfungssyndrom: Viele ADHS-Betroffene sind dauerhaft am Limit. Sie „funktionieren“ jahrelang über ihre Grenzen hinweg – bis nichts mehr geht. Die Erschöpfung ist dann nicht Ursache, sondern Folge der ständigen Selbstüberforderung.
- Angststörung: Versagensängste, soziale Unsicherheiten oder Sorgen, etwas Wichtiges zu vergessen – all das kann aus dem ADHS heraus entstehen. Doch wenn diese Ängste im Fokus stehen, wird das zugrunde liegende Problem oft nicht erkannt.
- Hochsensibilität: ADHS-Menschen sind oft überreizt – auditiv, emotional, sozial. Doch im Unterschied zur Hochsensibilität liegt bei ADHS eine gestörte Reizfilterung und Selbstregulation vor, die behandlungsbedürftig ist.
- Autismus-Spektrum-Störung (ASS): Beide Störungsbilder teilen gewisse Merkmale: soziale Unsicherheiten, Spezialinteressen, sensorische Überempfindlichkeit. Doch während ADHS eher durch Impulsivität und Unbeständigkeit gekennzeichnet ist, liegt bei ASS ein grundlegender Unterschied in der sozialen Wahrnehmung und Kommunikation vor.
Was eine gute Diagnostik ausmacht
Eine fundierte ADHS-Diagnostik ist keine Momentaufnahme. Sie ist ein vielschichtiger Prozess:
- Biografische Anamnese: Wie war die Kindheit? Gab es Anzeichen wie Impulsivität, Verträumtheit, Lernschwierigkeiten, soziale Konflikte oder emotionale Ausbrüche? Liegt eine Familienanamnese vor?
- Verhaltensbeobachtung: Wie wirkt die Person im Gespräch? Gibt es erkennbare Muster wie Abschweifen, sprunghafte Gedankenführung, Reizüberflutung oder Schwierigkeiten, zur Ruhe zu kommen?
- Fragebögen und Screening-Instrumente: Sie helfen, typische Muster sichtbar zu machen – aber sie sind nur ein Puzzlestück.
- Ausschlussdiagnostik: Gibt es neurologische, internistische oder andere psychische Erkrankungen, die die Symptome besser erklären würden? Hier ist ärztliche Zusammenarbeit wichtig.
- Differenzialdiagnostik: Welche Symptome gehören zu welchem Störungsbild? Wo liegt der Fokus der Beschwerden? Wie sehen Wechselwirkungen aus?
Was Betroffene häufig erleben
Viele Menschen mit ADHS haben eine lange Reise hinter sich. Sie haben Therapien gemacht, Medikamente ausprobiert, Diagnosen erhalten – und doch blieb das Gefühl, nicht ganz verstanden zu sein. Manche zweifeln an sich: “Vielleicht stelle ich mich an.” Oder: “Ich bin halt nicht belastbar.” Dieses verzerrte Selbstbild entsteht oft durch Fehldiagnosen oder unvollständige Erklärungen. Und es verhindert, dass echte Veränderung möglich wird.
Was hilft?
- Zweitmeinung einholen: Wenn die bisherige Diagnose nicht stimmig erscheint, kann eine spezialisierte Diagnostik Klarheit bringen.
- Aufklären und vernetzen: Informationen zu ADHS, Gespräche mit Fachpersonen und Austausch mit anderen Betroffenen helfen, eigene Erlebnisse besser einzuordnen.
- Selbstmitgefühl entwickeln: Die Diagnose ADHS ist kein Etikett – sie kann eine Brücke sein, sich selbst neu zu verstehen.
Fehldiagnosen bei ADHS sind nicht die Schuld Einzelner, sondern Ausdruck eines Systems, das zu wenig über neurodiverse Verläufe weiß. Wer wirklich helfen will, muss hinschauen – differenziert, biografisch, mit offenem Blick. Denn nicht alles ist ADHS. Aber wenn es das ist, dann kann eine gute Diagnostik zum Wendepunkt werden: raus aus dem ewigen Zweifel – hin zu einem neuen Selbstverständnis.