Was ADHS wirklich ist – und was nicht
Ein ehrlicher Blick auf eine oft missverstandene Diagnose
Wenn Menschen an ADHS denken, haben sie oft ein bestimmtes Bild vor Augen: das zappelige Kind, das im Unterricht stört, sich nicht konzentrieren kann und ständig dazwischenruft. Doch dieses Bild ist nicht nur unvollständig – es ist irreführend. Denn ADHS ist viel mehr als das. Es ist eine tiefgreifende neurologische Besonderheit, die sich unterschiedlich zeigen kann und weit mehr betrifft als die Aufmerksamkeit.
Ein Begriff, vier Buchstaben, viele Missverständnisse
ADHS steht für “Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung”. Der Begriff suggeriert, es gehe hauptsächlich um Konzentrationsprobleme und Hyperaktivität. Das trifft einen Teil, aber eben nicht das Ganze.
Menschen mit ADHS haben nicht einfach zu wenig Aufmerksamkeit – sondern eine Schwäche in der Steuerung ihrer Aufmerksamkeit. Das bedeutet: Sie können sich manchmal gar nicht konzentrieren – und in anderen Momenten extrem stark, wenn etwas ihr Interesse weckt. Das nennt man Hyperfokus. Und er ist genauso Teil des ADHS wie die Zerstreutheit.
Gleichzeitig zeigt sich ADHS auf vielen Ebenen:
- in der Impulskontrolle (schnelles Reden, Handeln, Entscheiden ohne Nachdenken),
- in der Emotionsregulation (plötzliche Wut, Überforderung, Rückzug),
- und in der Selbstorganisation (Verlieren von Dingen, Vergessen von Terminen, Prokrastination).
Diese Facetten machen ADHS zu einer komplexen Herausforderung – für die Betroffenen und oft auch für ihr Umfeld.
Was ADHS ist: Ein neurologisch anderes Betriebssystem
Im Kern handelt es sich bei ADHS um eine neurologisch bedingte Störung der Selbstregulation. Betroffene haben Schwierigkeiten, Reize zu filtern, Handlungen zu planen und sich selbst zu steuern. Ursache ist unter anderem eine veränderte Aktivierung bestimmter Hirnareale, vor allem im Frontalhirn, das für Planung, Impulskontrolle und Zielverfolgung zuständig ist.
Auch das Dopamin-System, das für Motivation, Belohnung und Lernen eine wichtige Rolle spielt, funktioniert bei ADHS anders. Deshalb sprechen viele Betroffene auf Medikamente wie Methylphenidat oder Lisdexamfetamin gut an – aber auch andere Wege der Unterstützung sind möglich.
Was ADHS nicht ist
ADHS ist nicht:
- eine Erziehungsfrage,
- das Ergebnis von zu viel Bildschirmzeit oder zu wenig Bewegung,
- eine Ausrede für Faulheit oder Desinteresse,
- eine “Modediagnose”.
Diese Mythen halten sich hartnäckig und schaden. Denn sie machen es Betroffenen schwer, sich selbst zu verstehen und Hilfe anzunehmen. ADHS ist auch nicht auf Kinder beschränkt: Viele Betroffene erhalten ihre Diagnose erst im Erwachsenenalter – oft nach Jahren der Selbstzweifel und Überforderung.
Wie sich ADHS anfühlt
ADHS ist oft unsichtbar. Viele Betroffene wirken nach außen leistungsfähig, freundlich, kreativ. Doch innen sieht es anders aus: Ein Gedankenkarussell, das nicht aufhört. To-do-Listen, die nie ganz abgearbeitet werden. Termine, die immer knapp verpasst werden. Emotionen, die plötzlich überschwappen.
Die ständige Selbstregulation kostet Kraft. Viele Menschen mit ADHS berichten von tiefer Erschöpfung, von einem Gefühl, anders zu sein, sich ständig mehr anstrengen zu müssen als andere. Und gleichzeitig erleben sie sich als besonders empathisch, kreativ, leidenschaftlich.
ADHS erkennen: Das braucht mehr als einen Online-Test
Eine fundierte Diagnose erfordert eine sorgfältige Erhebung: Gespräche zur Entwicklungsgeschichte, Fragebögen, neuropsychologische Testverfahren und oft auch die Einbeziehung von Bezugspersonen. Denn ADHS ähnelt in seinen Symptomen anderen Störungen wie Depression, Angst oder Autismus. Nur wer differenziert hinschaut, kann eine zutreffende Diagnose stellen.
Was hilft?
ADHS ist nicht heilbar – aber sehr gut behandelbar. Und zwar nicht nur mit Medikamenten.
- Psychoedukation: Verstehen, was im eigenen Gehirn passiert, hilft enorm
- Therapie oder Coaching: Alltag strukturieren, eigene Muster erkennen, sich neu organisieren.
- Medikation: Kann helfen, muss aber gut begleitet und individuell abgewogen werden.
- Selbstmitgefühl: Der wohl wichtigste Schritt. Wer sich selbst als “faul” oder “versagend” erlebt, braucht nicht mehr Disziplin – sondern mehr Freundlichkeit mit sich.
ADHS ist mehr als eine Sammlung von Symptomen. Es ist eine andere Art, die Welt zu erleben. Eine Herausforderung, ja. Aber auch ein Teil der eigenen Identität. Menschen mit ADHS brauchen kein Urteil, sondern Verständnis. Kein Dogma, sondern Vielfalt. Und keinen Druck, sondern Wege, die wirklich zu ihnen passen.
Denn letztlich geht es nicht darum, “normal” zu funktionieren. Sondern darum, sich selbst zu verstehen – und das eigene Leben so zu gestalten, dass es tragfähig, liebevoll und lebbar wird. Auch mit ADHS. Oder gerade deswegen.