Parentifizierung: Wenn Kinder zu Eltern werden
Parentifizierung ist ein Begriff, der beschreibt, was passiert, wenn Kinder Rollen übernehmen, die eigentlich den Erwachsenen vorbehalten sind. Dies kann durch emotionale oder praktische Übernahme von Verantwortung geschehen, wie etwa dann, wenn ein Kind die Gefühle oder Konflikte eines Elternteils reguliert oder bei Aufgaben im Haushalt und der Betreuung von Geschwistern die Rolle eines Elternteils übernimmt. Auf den ersten Blick mag dies unscheinbar wirken, doch die Folgen von Parentifizierung reichen oft tief und können das Leben der betroffenen Kinder bis ins Erwachsenenalter prägen.
Was bedeutet Parentifizierung?
Parentifizierung tritt dann auf, wenn Kinder in die Rolle eines „Mini-Erwachsenen“ gedrängt werden, der sich um die Bedürfnisse der Eltern oder der Familie kümmert. Das kann auf zwei Hauptarten geschehen:
- Emotionale Parentifizierung: Hierbei wird das Kind zur emotionalen Stütze eines Elternteils. Das Kind hört die Sorgen des Elternteils an, bietet Trost oder wird zur Anlaufstelle für Ratschläge in Beziehungsfragen. Manchmal wird das Kind auch in Konflikte zwischen den Eltern hineingezogen und muss als „Vermittler“ fungieren. Die emotionalen Bedürfnisse der Eltern werden wichtiger als die des Kindes, das schnell lernt, die eigenen Gefühle und Wünsche zurückzustellen.
- Instrumentelle oder praktische Parentifizierung: In diesem Fall übernimmt das Kind Aufgaben, die typischerweise Erwachsenen vorbehalten sind, wie die Versorgung von Geschwistern, Haushaltsführung oder sogar finanzielle Verantwortung. Diese Art der Parentifizierung kommt oft in Haushalten mit Krankheit, Armut oder einer alleinerziehenden Elternschaft vor, in denen die Belastung für die Erwachsenen besonders hoch ist.
In beiden Fällen wird das Kind gezwungen, schneller „erwachsen“ zu werden und Verantwortung zu übernehmen, die es überfordert und von eigenen Bedürfnissen und Entwicklungsaufgaben abhält.
In beiden Fällen wird das Kind gezwungen, schneller „erwachsen“ zu werden und Verantwortung zu übernehmen, die es überfordert und von eigenen Bedürfnissen und Entwicklungsaufgaben abhält.
Warum kommt es zur Parentifizierung?
Parentifizierung kann aus verschiedenen Gründen auftreten. In Familien mit hohen Stressfaktoren wie psychischen Erkrankungen, Abhängigkeiten, Trennungen oder finanziellen Problemen ist es nicht ungewöhnlich, dass Kinder Verantwortung übernehmen. Eltern in solchen Situationen können oft nicht ihre vollständige Rolle ausfüllen, sodass Kinder automatisch einspringen, um das emotionale oder praktische Gleichgewicht in der Familie zu wahren.
Ein weiterer Grund kann in emotional unreifen Eltern liegen, die ihre eigenen Bedürfnisse und Unsicherheiten auf das Kind projizieren und es als Stütze für die eigenen Probleme nutzen. Manche Eltern haben vielleicht selbst nie gelernt, emotionale oder praktische Verantwortung zu übernehmen, und sehen ihr Kind als Ersatz für einen fehlenden Partner oder als engste Vertrauensperson.
Folgen der Parentifizierung: Was bleibt zurück?
Die Belastungen und Pflichten, die Kindern durch Parentifizierung aufgebürdet werden, haben oft weitreichende Folgen, die bis ins Erwachsenenalter anhalten. Hier sind einige der häufigsten Auswirkungen:
- Geringes Selbstwertgefühl und Schuldgefühle: Parentifizierte Kinder entwickeln oft das Gefühl, dass sie nur durch Leistung und Verantwortung wichtig sind. Ihr Selbstwertgefühl hängt davon ab, wie gut sie die Bedürfnisse anderer erfüllen. Viele fühlen sich schuldig, wenn sie eigene Bedürfnisse haben oder ihre eigenen Wünsche verfolgen möchten.
- Erschöpfung und emotionale Überforderung: Da sie früh lernen, für andere verantwortlich zu sein, vernachlässigen parentifizierte Kinder häufig ihre eigenen Bedürfnisse und Empfindungen. Dies kann zu einem anhaltenden Gefühl der Erschöpfung führen, da sie nie gelernt haben, auf sich selbst zu achten oder Hilfe anzunehmen.
- Probleme in zwischenmenschlichen Beziehungen: Viele Betroffene haben Schwierigkeiten, gesunde Grenzen zu setzen und für ihre eigenen Bedürfnisse einzustehen. Sie empfinden oft die Verantwortung für das Wohl anderer oder fühlen sich in Freundschaften und Partnerschaften schnell überfordert und unter Druck gesetzt, anderen emotional oder praktisch zur Seite zu stehen. Dies kann zu ungesunden Beziehungsmustern führen, in denen sie sich selbst aufopfern und schwer zur Ruhe kommen.
- Perfektionismus und übermäßiger Verantwortungsdruck: Das Gefühl, stets „funktionieren“ zu müssen, um anderen gerecht zu werden, kann sich in einem starken Perfektionismus ausdrücken. Viele betroffene Erwachsene haben das Bedürfnis, die Kontrolle über alle Aspekte ihres Lebens zu behalten und befürchten, als schwach oder unfähig zu erscheinen, wenn sie Hilfe annehmen oder loslassen.
- Schwierigkeiten mit eigenen Bedürfnissen: Ein häufiges Merkmal parentifizierter Menschen ist, dass sie kaum ihre eigenen Bedürfnisse kennen. Sie sind so darauf trainiert, auf die Bedürfnisse und Erwartungen anderer zu reagieren, dass es ihnen schwerfällt zu erkennen, was sie selbst wirklich möchten. In vielen Fällen kann dies zu einem inneren Gefühl der Leere führen, da sie das Gefühl für ihre eigenen Wünsche und Ziele nicht richtig entwickelt haben.
Der Weg zur Heilung und Selbstfürsorge
Die Heilung von den Folgen der Parentifizierung ist oft ein langer Weg, der viel Geduld und Selbstmitgefühl erfordert. Ein wichtiger Schritt besteht darin, das Ausmaß der Verantwortung zu erkennen, das einem als Kind aufgebürdet wurde, und zu verstehen, dass es in Ordnung ist, eigene Bedürfnisse und Grenzen zu haben. Hier sind einige Ansätze, die helfen können:
- Grenzen setzen lernen: Viele parentifizierte Menschen haben Schwierigkeiten, „Nein“ zu sagen und Verantwortung abzugeben. Doch das Setzen von Grenzen ist entscheidend, um sich selbst zu schützen und das Gefühl der Überforderung zu reduzieren.
- Selbstfürsorge entwickeln: Zu lernen, auf die eigenen Bedürfnisse zu hören und sich selbst zu unterstützen, ist ein zentraler Teil der Heilung. Selbstfürsorge bedeutet, sich regelmäßig Pausen zu gönnen, Hilfe anzunehmen und Zeit für Aktivitäten zu finden, die einem gut tun.
- Therapeutische Unterstützung suchen: Eine Therapie kann helfen, die Muster und Glaubenssätze zu verstehen, die durch die Parentifizierung entstanden sind. Ein Therapeut oder eine Therapeutin kann unterstützen, das Gefühl des eigenen Wertes zu entwickeln und neue Wege zu finden, um gesunde Beziehungen zu führen.
- Eigenes Selbstwertgefühl aufbauen: Sich selbst zu lieben und zu akzeptieren ist oft eine der größten Herausforderungen für Menschen, die parentifiziert wurden. Kleine Schritte, wie positive Selbstgespräche und das Wertschätzen der eigenen Leistungen, können helfen, ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln.
Parentifizierung kann tiefgreifende Spuren im Leben hinterlassen, doch es ist möglich, sich von den Belastungen und Erwartungen zu befreien, die diese Erfahrung mit sich bringt. Das Erkennen der eigenen Muster, das Einüben von Selbstfürsorge und das Setzen gesunder Grenzen ermöglichen es, die Last der Kindheit abzuwerfen und die eigene Identität unabhängig von den Bedürfnissen anderer zu entfalten. Es ist ein Prozess, der Mut erfordert, aber er führt zu einem erfüllteren und selbstbestimmteren Leben – zu einem Leben, in dem man sich selbst und den eigenen Bedürfnissen genauso viel Wert beimisst wie denen der anderen.