ADHS und das Gehirn: Neurobiologische Hintergründe einfach erklärt
Was im Kopf passiert – und warum das Verständnis so wichtig ist
Warum bin ich so sprunghaft? Warum verliere ich so schnell den Faden? Warum reagiere ich manchmal so heftig auf Kleinigkeiten? Wer mit ADHS lebt, stellt sich solche Fragen häufig – oft begleitet von Schuld- oder Schamgefühlen. Doch die Antwort liegt nicht im Charakter oder der Erziehung. Sie liegt im Gehirn. Denn ADHS ist keine Persönlichkeitsstörung und kein „Verhaltensthema“, sondern eine neurobiologisch bedingte Besonderheit in der Selbststeuerung.
Das Frontalhirn – unser „Steuerzentrum“ im Alltag
Im Zentrum der ADHS-Forschung steht das präfrontale Kortex, also der vordere Bereich unseres Frontalhirns. Hier sitzen die sogenannten Exekutivfunktionen: Fähigkeiten wie Planen, Priorisieren, Impulskontrolle, Arbeitsgedächtnis, Entscheidungsfähigkeit und emotionale Regulation. Bei ADHS arbeiten diese Funktionen weniger effizient – entweder, weil das Frontalhirn unteraktiv ist, oder weil die Kommunikation mit anderen Hirnarealen gestört ist.
Für Betroffene bedeutet das konkret:
- Sie wissen, was sie tun sollten – können es aber nicht umsetzen.
- Sie haben gute Ideen, aber Schwierigkeiten, sie in die Tat umzusetzen.
- Sie erleben plötzliche Gefühlsausbrüche, die sie selbst überraschen.
Diese „Leistungsbrüche“ zwischen Denken und Handeln sind typisch für ADHS – und erklären, warum viele Betroffene sich selbst nicht verstehen.
Das Dopamin-System – Motivation, Fokus und Belohnung
Ein weiterer zentraler Punkt ist das dopaminerge System. Dopamin ist ein Neurotransmitter, der bei Motivation, Aufmerksamkeit und der Verarbeitung von Belohnung eine wichtige Rolle spielt. Menschen mit ADHS haben oft eine gestörte Dopaminregulation – entweder wird zu wenig Dopamin freigesetzt, oder die Rezeptoren verarbeiten es nicht effizient genug.
Deshalb fällt es schwer, Aufgaben zu beginnen oder durchzuhalten, wenn sie keine direkte emotionale Relevanz haben. Besonders betroffen sind sogenannte „niedrig stimulierende“ Tätigkeiten: Aufräumen, Papierkram, Ablage. Gleichzeitig erleben viele eine starke Motivation bei emotional bedeutungsvollen oder hochinteressanten Themen – hier kann es zu Hyperfokus kommen: einem intensiven, fast unerschütterlichen Konzentrationszustand.
Reizfilter und Reizoffenheit – Wenn alles gleichzeitig reinkommt
Ein gesundes Gehirn kann unwichtige Reize ausblenden – ein Gespräch bleibt im Fokus, obwohl das Handy summt, draußen ein Auto hupt und der Stuhl unbequem ist. Bei ADHS fehlt oft dieser innere Reizfilter. Das führt zu einer ständigen Reizüberflutung. Betroffene nehmen alles gleichzeitig wahr – das Gespräch, die Hintergrundmusik, die Geräusche, das Licht, die Temperatur, die eigenen Gedanken. Und das strengt an.
Diese Reizoffenheit kann positiv sein (z. B. für Kreativität oder Empathie), führt aber oft zu Überforderung, Erschöpfung und Reizbarkeit – besonders in lauten, hektischen oder sozial dichten Umgebungen.
Was Medikamente tun – und was nicht
Stimulanzien wie Methylphenidat (z. B. Ritalin, Medikinet) oder Lisdexamfetamin (z. B. Elvanse) verbessern die Signalübertragung im dopaminergen System. Sie helfen dem Gehirn, Reize besser zu filtern, Handlungen zu strukturieren und Impulse zu regulieren. Aber: Medikamente verändern keine Persönlichkeit und lösen keine emotionalen Blockaden. Sie sind wie eine Brille: Sie schaffen Klarheit, ersetzen aber nicht den Weg, den man gehen muss.
Was das Verständnis verändert
Wenn wir begreifen, dass ADHS kein Wollen-Problem, sondern ein Steuerungsproblem ist, verändert sich der Blick. Statt Vorwürfen entsteht Verständnis. Statt Scham kann Mitgefühl entstehen. Menschen mit ADHS „funktionieren“ nicht falsch – ihr Gehirn arbeitet nur anders. Und das braucht andere Strategien.
Das Wissen um die neurobiologischen Hintergründe kann entlasten. Es öffnet Türen für individuelle Lösungen: für ein anderes Zeitmanagement, mehr Pausen, strukturierte Räume, verständnisvolle Kommunikation, flexible Lern- und Arbeitsumfelder.
Fazit: Neurobiologie ist keine Entschuldigung – sondern eine Erklärung
ADHS ist kein Zeichen von Schwäche oder Unreife. Es ist Ausdruck eines anders verdrahteten Gehirns. Wer das versteht, kann beginnen, sich selbst besser zu begleiten – nicht gegen die eigene Struktur, sondern mit ihr. Denn im Kern geht es nicht um Kontrolle, sondern um Verständnis. Nicht um Disziplin, sondern um passende Rahmenbedingungen. Und nicht um Anpassung, sondern um Authentizität mit Struktur.
Wer ADHS hat, braucht kein Urteil – sondern eine Umgebung, die das Gehirn entlastet und das Potenzial sichtbar macht.