
ADHS bei Frauen: Maskierung, Anpassung, Erschöpfung
Warum so viele Betroffene sich selbst nicht erkennen – und wie sich das ändern kann
“Ich funktioniere. Aber ich bin jeden Tag am Limit.” Dieser Satz fällt oft in Gesprächen mit Frauen, bei denen erst spät im Leben ADHS diagnostiziert wird. Es sind Frauen, die nach außen hin organisiert, hilfsbereit und sozial kompetent wirken – und innerlich erschöpft, getrieben und dauerhaft überfordert sind. Viele von ihnen haben keine Ahnung, dass ihr ständiges Ringen keine Charakterschwäche ist, sondern Ausdruck einer neurologischen Besonderheit: ADHS.
Nicht so, wie man denkt
Das klassische Bild von ADHS – das zappelige, laute Kind, das ständig dazwischenruft – passt selten auf Frauen. Viele Mädchen und Frauen mit ADHS stören nicht. Im Gegenteil: Sie versuchen alles, um nicht aufzufallen. Sie sind freundlich, mitfühlend, kontrolliert. Statt Hyperaktivität zeigen sie innere Unruhe. Statt Impulsivität oft Grübeln. Statt Rebellion: Perfektionismus. Sie versuchen, das vermeintliche Chaos im Innern mit äußerer Ordnung zu überdecken.
Diese Form der Anpassung – das Maskieren – kostet enorm viel Energie. Und genau das führt dazu, dass ADHS bei Frauen oft nicht erkannt wird. Sie sind zu „gut im Funktionieren“, um aufzufallen. Und genau deshalb leiden sie im Verborgenen.
Woran Frauen ADHS erkennen können
Viele Frauen, die später die Diagnose erhalten, beschreiben rückblickend ähnliche Erfahrungen. Vielleicht erkennst du dich in einigen dieser Beschreibungen wieder:
- Du fühlst dich oft überreizt – Geräusche, Licht, soziale Interaktionen können schnell zu viel sein.
- Du brauchst Rückzug, aber nimmst ihn dir selten.
- Du verpasst Termine oder vergisst Verabredungen – und schämst dich dafür.
- Du beginnst vieles mit Begeisterung, verlierst aber schnell den Überblick.
- Du arbeitest unter Druck oft besser – weil du vorher nicht „in Gang kommst“.
- Du hast intensive Gedankenströme, die sich nicht stoppen lassen.
- Du hast Phasen extremer Produktivität – und danach tiefe Erschöpfung.
- Du zweifelst häufig an dir, obwohl andere dich für leistungsstark halten.
- Du fühlst dich schnell verletzt und emotional durchlässig.
- Du tust dich schwer mit Grenzen – und übernimmst dich oft.
Wenn das Leben zu viel wird – und niemand weiß, warum
Viele Frauen mit ADHS erhalten zuerst andere Diagnosen: Depression, Erschöpfung, Angststörung, Essstörung. Und tatsächlich hängen diese häufig mit einem unerkannten ADHS zusammen. Denn wer sich ein Leben lang überfordert, unverstanden und innerlich zerrissen fühlt, entwickelt oft sekundäre Symptome.
Nicht selten erleben Frauen, dass sie „irgendwie anders“ sind – sensibler, ungeduldiger, chaotischer. Aber statt Unterstützung zu bekommen, hören sie: „Reiß dich zusammen.“ Oder: „Du stellst dich an.“ Der Druck steigt, die Selbstzweifel wachsen, und die Fassade wird aufrechterhalten – bis sie nicht mehr zu halten ist.
Die späte Diagnose: Befreiung und Schmerz zugleich
Wenn Frauen endlich erfahren, dass ihr Erleben einen Namen hat – ADHS – fällt vieles an seinen Platz. Plötzlich ergibt so vieles einen Sinn: das Gedankenchaos, das emotionale Reagieren, das Aufschieben, die Reizempfindlichkeit. Aber neben der Erleichterung kommt oft auch Traurigkeit. Die Erkenntnis, wie lange man sich selbst abgelehnt hat. Wie viele Jahre man damit verbracht hat, zu funktionieren – statt einfach zu sein.
Was hilft – wirklich
Der Weg nach der Diagnose beginnt nicht mit Disziplin oder Selbstoptimierung. Sondern mit Verständnis. Mit Biografiearbeit. Mit dem Aufbau von Selbstmitgefühl.
- Verstehen, wie ADHS sich bei Frauen zeigt – nicht nur in Tests, sondern im Alltag.
- Die eigene Geschichte neu lesen – und erkennen, dass man nie faul oder seltsam war.
- Sich Strategien holen, die wirklich passen – keine starren Systeme, sondern flexible Werkzeuge.
- Reizschutz ernst nehmen – Pausen, Auszeiten, klare Grenzen sind keine Schwäche, sondern Notwendigkeit.
- Sich vernetzen – der Austausch mit anderen Betroffenen kann entlasten und stärken.
Wer sich erkennt, kann endlich sein
ADHS bei Frauen wird noch immer viel zu selten erkannt. Weil sie sich so gut angepasst haben. Weil sie stark sein mussten. Weil sie gelernt haben, zu funktionieren statt zu fühlen. Doch ein Leben im Dauerkompromiss macht krank.
Wenn Frauen beginnen, sich selbst in einem neuen Licht zu sehen – mit Mitgefühl, Wissen und der Erlaubnis, anders zu sein – kann aus Erschöpfung neue Kraft wachsen. Aus Selbstzweifel Selbstverbindung. Und aus Überforderung ein eigener Weg.
Nicht perfekt. Aber ehrlich. Und endlich: lebbar.